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Wochenberliner: Die zeitungsschlafende Frau

Man lässt Niemanden auf der Straße liegen

Ich spaziere durch die Herbststraßen. Es liegt viel nasses
Laub auf der Straße und ich denke darüber nach, zu Hause meine Gummistiefel zu
suchen.

Da sehe ich sie liegen. Sie liegt vor mir auf dem abschüssigen Bürgersteig,
den Kopf nach unten. Neben ihr stehen zwei Männer. Sie besprechen sich und ich
frage an, ob ich helfen kann. Sie nicken und bitten mich die Feuerwehr zu
rufen, während sie die Dame auf dem Bürgersteig vorsichtig in die stabile
Seitenlage bringen. Ganz vorsichtig schieben sie ihr eine Zeitung unter den
Kopf und drehen sie auf die Seite. Die Dame macht keinen Laut, nichts. 
Alles
ist still. 
Herbstlaub.

Wir drei stehen in dieser stillen Blase, mitten am Tag, während der
Rest der Leute auf dem Bürgersteig an uns vorbeitrampelt, noch meckernd brubbelnd
über die Störung auf ihrem Gehweg. Ich gebe der Feuerwehr Standort, Uhrzeit,
erkennbare Symptome und meinen Namen durch. Die Dame gibt keinen Mucks, ich
kann keine Atmung sehen. 


Ich frage die beiden Herren ob sie die Dame kennen. 


Sie verneinen und erzählen mir, dass die Dame vor ihren Augen eben ohnmächtig
geworden sei. Ich schätze sie ist Mitte 50, hat nichts weiter dabei als ihren
drei verschmutzen Jacken, eine Mütze und die kaputten Schuhe an ihren Füßen. „Sie
stinkt nach Alkohol“, sagt der Eine und: „Das ist auch egal“, sagt der Andere.
Ich frage die Beiden, ob ich noch etwas tun kann und verabschiede mich als die
Feuerwehr vor Ort eintrifft. Junge Sanitäter knien sich neben die Zeitungsschlafende
Frau und reden mit den beiden Männern. Es sieht so aus, als wäre alles im Fluss
und der so wichtige Gehweg unserer Gesellschaft gleich von der Störung befreit. 
Ich trampele weiter in den Herbst hinein, wie all die anderen Passanten die
angeekelt ihren Kopf abgewendet haben von der Situation und schaue ihnen direkt
in die Augen. Ja, ich kann euch sehen! Alu

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4 Comments

  • Nieselpriem
    23. Oktober 2015 at 06:34

    Als ich das letzte mal mit dem Bus nach Berlin gefahren bin, schlief ein junger Mann zwischen all den Wartenden. Der Bus kam, alle rein, der Mann blieb liegen… ich wieder raus, zwei andere (Studenten) ebenso, der Busfahrer am Maulen! Ich fahre ohne euch! Ich hab einen Fahrplan! Das selbe wie bei Dir… einer der Studenten war Medizinstudent und hat an dem jungen Mann rumgefummelt. Krankenwagen, Polizei, Gesprächsfetzen: Lasst doch das Drogenopfer dort liegen! Wir kommen alle zu spät nach Berlin wegen euch!
    Nein, niemanden kann man liegenlassen. Nicht, wenn man ein Herz hat. Du hast ein Herz, ich bin nicht überrascht.

  • gedankenpotpourri
    23. Oktober 2015 at 08:15

    Diese Blase die entsteht, diese Parallelwelt. Sie macht vielen Menschen Angst. Feiglinge. Eines Tages werden sie selber drin stecken. Und man kann nur hoffen, dass sich dann jemand in ihre stille Welt hineintraut.
    Danke, Alu. Für dich. Für deine Worte.
    Nina

  • nochmehrzwillingsblog
    23. Oktober 2015 at 18:28

    Auf unserem Hauptbahnhof gab es auch so eine Situation. Ich ging vorbei uns sah die typischen Bewegungen der Herzryhthmusmassage auf einem der U-Bahn-Steige. Überall herrschte Gewimmel, Vorweihnachtszeitgewimmel. Der Ausschnitt des Steiges war abgesperrt. Ich ging rasch weiter, ganz ans andere Ende, ich wollte nicht glotzen … Ich weiß nicht mehr, warum, aber ich meine mich zu erinnern, ein Tuch über einer menschlichen Gestalt gesehen zu haben. Ich bin nie wieder über diesen Abschnitt des U-Bahn-Steigs gegangen. Und ich staune, dass es so viele tun. Natürlich, sie wissen es nicht, und doch bleibt so ein seltsames Gefühl.

  • Marek
    26. Oktober 2015 at 13:28

    Ich stimme Nina zu. Irgendwann wird das "Kartenhaus", de Blase zusammenbrechen und die Erkenntnis wird groß sein….

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