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WARUM ich das DARUM laut aussprechen will #Brustkrebs #Rehatagebuch

Ich habe heute das Meer angeschrien. Ich stand da und musste brüllen. Ich musste rufen, herumkrakeelen, kreischen und schreien.
Die Wellen schlugen mir entgegen, der Wind pfiff mir um die Ohren und ich musste meine Schuhe fest in den Sand drücken, um nicht umgeweht zu werden. Wie ein Baum stand ich da am Meer, fest verwurzelt zwischen Himmel und Erde.

Während ich schrie, tobte der Ostseesturm. Kleine nasse Wasserblasen trafen auf mein Gesicht und mischten sich mit meinen eigenen Tränen, die ich nicht aufhalten konnte und ich rief:

WARUM?

Weder das Meer noch der Wind wissen eine Antwort auf meine vielen Fragen nach dem WARUM und dem WIESO, aber ich brauchte genau diesen Widerstand, dieses Fühlen auf meiner Haut, dieses Spüren von Natur und Leben. Dieses Weggetragen werden, von Ort und Zeit um zu Verstehen.
Ich hielt meine rote Mütze fest, drückte sie mit beiden Händen an meinen Kopf und schaute auf die rollenden Wellen. Langsam verabschiedete sich das Tageslicht. Die Möwen hatten sich längst verkrochen, sie wollten keine panierten Sandflügel mit in ihre Nester nehmen. Ich aber stand da und wollte genau das fühlen. Kleine Sandkörner, die sich in jeder Ritze meiner Kleidung verstecken würden und die diesen kleinen beißenden Schmerz auslösen, wenn sie auf die Augenlider treffen. Sandkörner, die man noch Tage später in den Hosen findet und sie dann ausschütteln muss, als mahnende Erinnerung.

Ich schob meinen Chemolocken aus dem Gesicht und streckte dem Meer meine linke Hand entgegen.

Ich ließ den Wind, den Sand und die kleinen Tropfen meine Handfläche treffen und durch meine Finger gleiten. Diese besondere Mischung aus rau und zart, aus verletzlich und derb. Aus kurz da und schon wieder weg. All das wollte ich heute spüren an diesem Tag, am liebsten überall.

Und ich schrie und rief und der Sturm tobte und die Wellen schlugen ans Ufer.

Das Wasser kam näher, aber ich wurzelte im Sand und mein Schal schlug mir auf den Rücken, als würde er Morsezeichen senden, die niemand mehr übersetzen kann.
Liebe J. , Ich habe deinen Namen in den Wind geschrien und die Namen all der Menschen, die ich in den letzten Jahren verloren habe. M, T, C, alles Frauen. Alles großartige Frauen. Alle besonders. Alle jung. Alle an diese Krankheit, deren Namen ich an manchen Tagen gar nicht mehr aussprechen kann, weil es so schmerzt.

Du meine liebe J., du hast heute deine letzte Reise angetreten! Über das Meer wurdest du getragen und unter dem Meer verwirbelt und bist auf den Wellen davon geschwommen. Ganz so wie es sich gehört für ein Küstenkind. Vom Winde verweht, deine Liebsten umgebend. Mich stürmisch begrüßend am Usedomer Ostseestrand.

Ich habe meine Wut und meine Trauer an die Wellen abgegeben und sie zu dir davontragen lassen. Ich habe sie vom Sturm und den Wogen zerstreuen lassen. Hinaus, hinaus in die Weite, weit weg von mir. Vielleicht dich kurz grüßend, wenn sie an Warnemünde vorbei jagen.

Abschied nehmen nach dem Tod am Meer

Kleine Muscheln drückten sich an meine Schuhe und ich war fast versucht sie zu zertrampeln, meine traurige Energie auch so herauszulassen. Aber ich spürte, der feste Stand, das Stehen bleiben, das Festbleiben, das ganz bei mir Sein, das gab mir den Halt.

Und dann war ich irgendwann leer. Ich hatte keine Tränen mehr übrig in diesem Moment, keine Wut mehr zu fühlen, keine Kraft mehr zu Schreien. Da war kein Verlangen mehr, weitere Sandkörner auf meiner Haut zu spüren, die sich mit Salzwasser mischen.
Ich löste mich vom Meer, blickte mich nicht um, sagte nicht „Auf Wiedersehen“ sondern stapfte langsam den Weg in den Forst hinein.

Die Stille des Herbstes empfing mich. Der Sturm fühlte sich weit weg an. Die Sandkörner lösten sich von meinem Gesicht. Meine Finger versteckten sich wieder in den Manteltaschen und meine Tränen trockneten. Im letzten Abendlicht stand ich dann inmitten dieser Stille, die nur ein Wald einem geben kann. Das nasse Laub roch nach guter Erde und Holz. Ich lehnte mich an einen Baum und kam zur Ruhe. Der Baum war längst feucht geworden, aber er nahm meine Wärme an und ich seinen Langmut.

Warum?

Denke ich. Ich zerlege das Wort leise innen drin W-A-R-U-M

 Ich weiß doch, dass es darauf niemals die eine Antwort geben wird! Diese Frage bleibt mir für immer und auch du liebe J. kanntest diese Frage und schriebst mir einmal „Genieß das Leben, es kann so schnell vorbei sein…“

Also trugen meine klobigen Füße mich heim und die Schritte gaben den Takt der Gedanken vor: Darum bin ich noch hier! Darum. Darum. Darum. Nicht, weil es logisch ist.

Sondern, weil es keine Antwort auf das WARUM und auch keine Antwort auf das DARUM geben kann.

Weil jeder Tag ein Tag ist. Ein Tag in diesem Leben.

Ich werde also weiterhin jeden Tag versuchen etwas zu finden, für das es sich lohnt immer wieder das DARUM laut auszusprechen. Auch an den miesen, an den beschissenen Tagen. Auch an den Tagen, an denen mein Alltag mich stresst oder ich vor der nächsten großen Entscheidung stehe. Auch an den Tagen, an denen ich Angst habe. Wegen dieses DARUMs werde ich mir die Zeit nehmen, die ich brauche.

Deswegen werde ich Dinge zulassen und fühlen und mir selbst genug sein, auch oder besonders an diesen Tagen. Weil es wohl niemals eine Antwort geben wird und weil der Wind heute meine Tränen davongetragen hat, zu dir.

Alu

Abschied nehmen nach dem Tod an Krebs

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1 Comment

  • Britta
    30. November 2024 at 05:26

    Liebe Alu,
    sehr berührende Worte.
    Danke.
    Liebe Grüße
    Britta

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