Heute mal wieder ein Gastpost und wir freuen uns diesen teilen zu können – das Thema ist Hochsensibilität
…so lässt sich das Phänomen „Hochsensibilität“ vielleicht am einfachsten beschreiben.
Dieser Text ist ein Versuch, mich selbst besser nachvollziehbar zu erklären. Mir ist wichtig, diese gesammelten Gedanken anderen zur Verfügung zu stellen, um für mehr Verständnis zu werben.
Während neurotypische Gehirne eingebaute Regulatoren haben, lässt sich im hochsensiblen Gehirn fast nichts von allein regulieren. Die Vorsortierung der Sinneseindrücke fehlt quasi und lässt also sämtliche Informationen ungefiltert ins Gehirn eindringen. Das Phänomen an sich ist nicht neu, bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts ließ sich anhand von Tests bei der Sensitivität verschiedener Menschen nachweisen, das circa 15-20% der Menschen eine erhöhte Reizempfindlichkeit aufweisen. In diesem Bereich bewegt sich das Verhältnis gegenüber der breiten Masse immer noch, und das Thema interessiert die Psychologie/Neurowissenschaft zunehmend, da es nicht mehr als reine Sinnesempfindlichkeit betrachtet wird, sondern als umfassender Komplex.
Das neurotypische Gehirn können wir uns vorstellen wie eine Landstraße: zwangsläufig erreichen wir auf ihr irgendwann eine Kreuzung, eine Ampel, oder eine Ortschaft, die uns zur Verlangsamung unserer Geschwindigkeit zwingt.
Diese Bremsen können wir mit den üblicherweise im Gehirn vorhandenen Regulatoren gleichsetzen. Sie helfen uns, das Denken bzw in dem Fall auch die Sinneseindrücke zu verarbeiten. Fehlen diese Regulatoren, sind wir im Bereich der Neurodiversität, einem Spektrum verschiedener neurologischer Phänomene, zu denen z.B. Autismus, ADHS, ADS, und eben auch die Hochsensibilität zählen.
Das hochsensible Gehirn weist dabei Parallelen zu anderen neurologischen Phänomenen auf, was den Blick auf die Person stigmatisiert, weil ausnahmslos jede Form der Neurodiversität vorurteilsbehaftet ist. Wie die anderen Phänomene auch, ist Hochsensibilität jedoch keine definitive Diagnose, es gibt keinen einwandfrei anwendbaren Test, der ultimativ festlegt, ob eine Hochsensibilität vorliegt. Anhand einiger Faktoren jedoch lässt sich skizzieren, ob eine Person eine erhöhte Sensitivität gegenüber ihrer Umwelt aufweist und die betroffene Person wahrscheinlich hochsensibel ist. Analog zu den anderen Phänomenen der Neurodiveristät gibt es hier eine große Grauzone, Überschneidungen sind möglich und verschiedene Aspekte bekannter Phänomene können sich bei einer Person sammeln.
Zurück zum Autobahn-Vergleich: Nehmen wir das neurotypische Gehirn als Landstraße mit (Verkehrs-)Regulatoren, ist das hochsensible Gehirn eine Autobahn, die diese Schranken nicht hat – Baustellen ausgenommen. Auf einer vielbefahrenen Autobahn ist höchste Konzentration geboten: Es ist vieles gleichzeitig zu beachten, je mehr Autos (Sinneseindrücke) unterwegs sind, desto größer ist die Anstrengung der Fahrt. Stehen keine regelmäßigen Regulatoren wie Raststätten oder Tankstellen zur Verfügung, wird die Fahrt (Verarbeitung) für die fahrende Person schnell zum Risiko – und damit auch für ihr direktes Umfeld, weil fehlende Pausen zu einer (emotionalen) Übermüdung führen können.
Die Kunst ist es also, verlässliche Regulatoren zu finden: Wo kann ich meine Raststätten aufstellen, welche Tankstellen wird es brauchen, um auch meinen inneren Akku wieder aufzuladen? Wie kann ich sicherstellen, dass meine Verarbeitungszeit regelmäßig und verlässlich Platz bekommt, damit mich die vielen Eindrücke nicht wörtlich „überfahren“?
Ein Wort habe ich absichtlich mehrfach gewählt: Regelmäßig. Der beste Stabilisator ist für mich ein regelmäßiger Terminplan, in dem ich bestimmte Zeiten frei einteilen kann, und in dem andere Zeiten fest verplant sind. Diese Zeitfenster auszubalancieren, ist im Zuge eines Jobs sehr viel anstrengender als noch zu Studienzeiten. Dabei ist mir aufgefallen, dass auch Arbeitslosigkeit meinen Regulatoren übel mitspielen kann: Habe ich keinen festen Plan, bin ich schneller überreizt, muss mich an andere Dinge klammern, und suche doch wieder nach Mustern, denen ich folgen und vertrauen kann.
Einer meiner zuverlässigsten Regulatoren ist dabei die strikt und regelmäßig aufgeteilte Betreuung meines Kindes, die es mir auch in joblosen Zeiten jederzeit ermöglicht, zumindest einen wöchentlichen Rahmen zu stecken, in dem ich entweder sehr konzentriert (weil emotional auch verantwortlich für einen weiteren Menschen) bin, oder in dem ich frei planen kann, wonach mir gerade der Sinn steht.
Unruhe bringt leider jeder neue Mensch in mein Leben hinein. Hat sich die Person durch reguläre Zeiten bereits etabliert (Schule, Studium, Arbeit, …), kann ich leichter auf flexiblere Planung eingehen. Selten schaffen es Menschen, sich gleich als flexible Akteur:innen zu etablieren. Die Schwierigkeit für mich ist es oft, einen Rahmen zu stecken, wenn ich das Gegenüber noch nicht lange kenne, weil es für mich zur Planung auch die Bedürfnisse des Gegenübers braucht. Lässt sich ein Weg finden, der beiden zugute kommt, ist Flexibilität kein Problem mehr. Je sicherer also die Verbindung zu einem Menschen ist, desto geringer ist die Angst, ihn zu verlieren. Dabei ist mein Kommunikationsbedürfnis wahrscheinlich überdurchschnittlich hoch, sodass auch die Angst wächst, das Gegenüber zu überfordern oder gar zu nerven.
Der Wunsch nach einem regelmäßigen Rahmen ist hier kein Kontrollinstrument, sondern eher der Versuch, das eigene Bedürfnis nach Ruhephasen, die ich zwangsläufig für meinen Gedanken- und Sinneseindrücke-Verkehr benötige, zu befriedigen.
Die Überlastung, die durch ständiges Um- oder Nicht-Planen entstehen kann, ist so immens, dass ich mich innerlich überschlage, die Bodenhaftung verliere und, gleich einem Unfallwagen, in der Böschung lande. Der Wunsch, genauso zu funktionieren, wie neurotypische Menschen, lässt mich oft an diese Belastungsgrenze gehen, auch wenn ich eigentlich längst weiß, dass ich das Verhalten nicht nachahmen kann, oder nur bedingt. Ohne meine Ruhephasen, ohne Reflexion, ohne Luft holen kann ich zwar einige Monate Flexibilität „ertragen“, falle dann aber schnell zurück in die Schneckenhaus-Taktik, mich in immer kürzeren Abständen zurück zu ziehen, weil die Regeneration aufgearbeitet werden muss. Das macht es gerade jetzt während der Pandemie zu einem sehr aufreibenden Prozess, überhaupt regelmäßig zu planen. Die Angst vor einer zweiten Kitaschließung ist also groß, weil mir dann wieder ein Stück Sicherheit wegbricht.
Die Erkenntnisse der letzten Jahre haben oft dazu geführt, dass ich Menschen aus meinem Leben verabschiedet habe, mit deren Planungsbedürfnis ich nicht zusammenpasste, oder deren Umgang mit mir diese Bedürfnisse nach Sicherheit, Zuverlässigkeit und Ruhephasen verletzt hat. Dieses Bedürfnis passend zu kommunizieren, gelingt mir ehrlich gesagt nicht immer, und je näher mir eine Person steht, desto schwerer fällt es mir, den Standpunkt klar zu formulieren, weil er für mich eben so logisch ist.
Nicht jeder Rahmen ist dabei für mich automatisch auch wirklich geeignet, es braucht oft eine Übergangsphase, um diesen Rahmen richtig zu justieren, und mit jedem Entwicklungsschritt und auch jedem neuen wichtigen Menschen wird eine Neuanpassung fällig. Dieses Justieren kann auch Raum schaffen für neue Personen, und so gern ich Menschen in dieses Leben hinein lassen möchte, ist echtes, tiefes Vertrauen schwierig, weil es bisher bereits maximal schädlich ausgenutzt wurde (laut der französischen Psychotherapeutin Christel Petitcollin sind hochsensible, bzw wie sie es nennt, „hocheffiziente“ Menschen besonders gefährdet, Narzissten zum Opfer zu fallen. Mehr zu lesen gibt es dazu hier: https://editionf.com/
Anhand der Sensibilität meines Gegenübers kann ich mögliche Überlastungszustände vorab kommunizieren bzw ankündigen, und dann gezielt gegensteuern. Leichter fällt mir das mit einer regelmäßigen Kommunikation und kann auf mein Gegenüber vielleicht sogar eingehen, wenn ein kompletter Rückzug für mich notwendig, für das Gegenüber aber verletzend sein könnte.
Unverständnis begegnet mir dabei oft, wenn es um den erhöhten Schlafbedarf geht, der bei anderen neurologischen Phänomenen wie ADHS nicht unbedingt gegeben ist. Bin ich also unausgeschlafen, erhöht sich die Reizempfindlichkeit, die dann wiederum mehr Regulation erfordert. Auf die Dauer gesehen muss ich also unbedingt verlässlich planen können, um regelmäßig hinterher zu kommen mit der Verarbeitung meiner Sinneseindrücke, weil mir die Regulatoren neurotypischer Gehirne offenbar fehlen. Das kann auch dazu führen, dass ich nachts so lange wach liege, bis ich die richtige Formulierung für einen Satz, eine Nachricht, einen Text gefunden habe, so wie bei diesem Text, der gegen 2 Uhr morgens fertig wurde.
Der größte Widerspruch für mich besteht darin, mich und meine Bedürfnisse (vor allem nach Ruhe) wahrzunehmen, und dabei mein Umfeld nicht vor den Kopf zu stoßen, wenn ich auf regelmäßige Planung dränge, oder mich für eine Weile zurück ziehe(n muss). Die Balance zwischen meinen eigenen Bedürfnissen und denen meines Gegenübers ist damit ein Drahtseilakt und lässt mich mit dem Gefühl zurück, jederzeit scheitern zu können. Während nämlich diese ganzen Sinneseindrücke mein Gehirn überfluten, werden gleichzeitig alle möglichen Szenarien durchgespielt – laut Nora Imlau haben hochsensible (oder wie sie sagt, gefühlsstarke) Menschen eine besondere Neigung zu negativ wirkenden Gedanken. Es ist dabei keine ultimativ pessimistische Sicht auf die Welt, sondern einer ein Schutzmechanismus, – zumindest begreife ich es so.
Ich habe bisher versucht das Beste daraus zu machen, dass mein Gehirn kreativ alle worst case scenarios auslotet: Ich kann im Grunde nur positiv überrascht werden, weil ich mir die schlimmsten Gedanken bereits gemacht habe.
Das eine mal, dass ich falsch lag, und die Wahrheit noch schlimmer war, als meine Gedanken, werde ich allerdings auch nie vergessen.
M.H.
Danke für diesen Gastpost und diese Erläuterungen. Habt ihr auch ein Thema für uns? Dann meldet euch gern.
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