In der letzten Woche lief ich an meinem „alten“ Buchladen vorbei. „Alt“, weil ich älter geworden bin und diese Ausbildung mir wie ein Abschnitt aus einem anderen Leben vorkommt. Ich weiß noch genau, wie ich mit knapp 21 Jahren meine Ausbildung angefangen hatte, mitten im Altersdurschnitt der anderen Auszubildenden in der Buchhändlerinnenklasse. An den Abenden waren wir aus und tanzten uns durch die Berliner Kneipen. An einigen Sonntagen war ich bis 3 Uhr Nachts in der alten Kantine der Kulturbrauerei tanzen um am nächsten Morgen um 8 Uhr wieder im Buchladen zu stehen (reichlich müde allerdings). Nur wenige Menschen aus unserem Ausbildungsjahr kamen nicht mit auf diese Feiern. Einige hatten zu lange Anreisen, andere die späten Schichten im Buchladen, aber dann gab es da noch diesen einen Mann Anfang 30, der eigentlich nie mitkam, denn er hatte Kinder! KINDER – der hatte echt Kinder?
Er war wie ein Alien für mich – ein Mensch von einem anderen Stern!
Ich konnte das gar nicht fassen, dass wirklich jemand nicht mit auf Party kam und so ein seltsames anderes Leben führte, wegen einer Familie. Im Laufe der zwei Jahre Ausbildung bekam die Familie sogar nochmal Nachwuchs! Ich weiß noch, dass wir für die Familie Geld sammelten für einen Gutschein und ich mürrisch fünf Euro abgab. Was interessierten mich die Kinder anderer Leute, war das nicht deren Problem? Ich hatte kein Verständnis für diesen Menschen, der wegen seiner Kinder Projekte verpasste oder später erscheinen konnte. Ich sah nur diese Ungerechtigkeit, dass dieser Mensch eine Extrawurst bekam, ein Alien Elter! Am Ende meiner Lehre hielt ich mit einigen Menschen Kontakt, natürlich den kinderlosen Menschen, alles andere wäre seltsam gewesen.
Ich mutiere zum Alien-Elter…
Ich begann nach der Lehre ein Studium, lernte meinen Mann kennen und bekam recht zügig ein Baby. Plötzlich war ich es, die nicht mehr mit auf Partys kam, die Projekte verbaselte, die zu spät zu Vorlesungen kam. Ich war das Alien- Elter. Ich war der einzige Mensch im Studium der plötzlich mit einem Baby in die Vorlesungen kam, musste mich früher verabschieden und bekam ein Geschenk von meinen Mitstudentinnen zur Geburt. Alles fühlte sich plötzlich komisch an. Ich hatte von nun an kein Verständnis mehr für Menschen, die sich nicht für mich und die Familie interessierten. Ich meine „Hallo??“ Ich hatte doch ein Baby, einen Menschen zu versorgen, da musste man doch Rücksicht nehmen!
Würde ich das nicht tun? Packte ich nicht immer am Kinderwagen an, wenn eine Treppe in Sicht war? Reichte ich nicht einer wildfremden Frau Windeln auf dem Spielplatz?
Nach einigen Jahren trafen sich unsere Buchhändlerinnen wieder. Während die Kinder des damaligen Kollegen schon fröhlich die Treppen auf und nieder rannten, hatte ich ein Kleinkind und einen Säugling an mir kleben und war müde und erschöpft. Ich freute mich den Kollegen zu sehen und sprach ihm nach Jahren meinen Respekt für seine damalige Lebenssituation und Logistik aus und tat dies aus vollem Herzen. Ich freute mich selbst über diesen Schritt, denn ich war blind und ignorant gewesen, wie unangenehm. Denn was Eltern alles leisten, egal in welcher Lebenslage, das ist wirklich anzuerkennen und kann von vielen Menschen vielleicht gar nicht so wahrgenommen werden.
Haben mich meine eigenen Kinder empathischer werden lassen? Auf jeden Fall.
und genau deswegen schreibe ich auch ab und zu mal Texte wie diesen hier!
Alu
1 Comment
Franzi
19. März 2021 at 13:09Naja, Empathie meint ja, sich allgemein in andere hineinversetzen und mitfühlen zu können. In dem Fall setzt Du Dich ja nicht wirklich in andere hinein, sondern in Leute, die in einem ähnlichen (Familien-) Kontext leben wie Du. Das fällt nicht schwer, wenn man dieselben Erfahrungen macht.
Das ist nicht böse gemeint, aber auch Eltern leben in ihrer Blase und Sehen vor allem ihre eigenen Bedürfnisse, ist ja auch menschlich. Aber sie sind jetzt in meinen Augen nicht die besseren und mitfühlerenden Menschen.